Der Wortschatz-Drechsler – Adieu, Wolf Schneider

Ich bin Wolf Schneider nie begegnet. Trotzdem hat der große Sprachlehrer mein Leben stark beeinflusst. Vielleicht hat er es sogar aufs Gleis in Richtung Hauptberuf Journalist gesetzt. Nun ist Wolf Schneider mit 97 Jahren gestorben – in meinem Kopf wird er aber weiter rumspuken wie in den vergangenen 25 Jahren an fast jedem Tag.

Natürlich ist es nicht Schneider, der spukt, sondern seine Regeln, Urteile, Lehren. Als Schülerpraktikant bei einer Tageszeitung habe ich erstmals Deutsch für Profis gelesen, den berühmtesten seiner unzähligen Stilratgeber. Darin gibt es eine Liste namens „Schludereien und Marotten“, die ich so durchgekaut habe, dass ich viele Einträge noch auswendig kann.

Manche Schneider-Tipps sind schlecht gealtert

Aus heutiger Sicht sind manche Einträge schlecht gealtert. Schneider verdammt Begriffe als „Modewörter“, die inzwischen so etabliert sind, dass Schreibende, die seine Alternativvorschläge anwenden, wahrscheinlich kaum verstanden würden: Netzwerk zum Beispiel, „Anglizismus und Blähwort“. Man solle doch lieber Netz oder Geflecht sagen.

Oder auch „attraktiv“: „Aus Amerika importiertes, bis zum Überdruss verwendetes Standardwort, für alle Frauen oder Mädchen, die früher hübsch, schön, ansehnlich, appetitlich, schmuck, niedlich, nett, adrett, sympathisch hießen – oder nichts dergleichen sind und mit dem Modewort getröstet werden sollen.“

Viele Einschätzungen sind aber so zeitlos richtig, dass man sich wundert, wie oft einem noch Formulierungen begegnen, die Schneider vor 30, 40, 50 Jahren mit einer Spitze für immer unmöglich gemacht zu haben schien.

Wer diese zehn Formulierungen aus seinem Wortschatz streicht, schreibt 20 Prozent besser

Ich habe, als die Todesnachricht kam, noch einmal Deutsch für Profis aus dem Regal genommen und gelesen. Dies sind die Top-10-Schludereien (Wolf Schneider hätte das nicht so ausgedrückt) aus der Liste, die mir heute noch nahezu täglich begegnen, wenn ich Texte redigiere.

  1. abzuwarten bleiben. Schlussfloskel und Verlegenheitswort in Leitartikeln, die auf den Knalleffekt zumarschieren: „Ob sich die Lage in (Persien, Bolivien, Kambodscha usw.) wirklich beruhigt… Ob diese törichte Regierung imstande ist, dem Rat unseres Blattes zu folgen… bleibt abzuwarten.“
  2. Bekenntnis ablegen zu. Eine garstige Floskel und typische Einleitung einer Unnachricht. Wer immer nichts Besseres zu tun hatte, als ein Bekenntnis zu diesem oder jenem abzulegen, sollte überhaupt nicht gedruckt oder gesendet werden.
  3. beziehungsweise bzw. bzw. Eine meist vermeidbare Hässlichkeit und Pedanterie. „Meier und Müller verdienen 3000 und 4000 Mark“ Ist ein völlig klarer deutscher Satz.
  4. gezielt. Gespreiztes Modewort, mit dem entweder Zielstrebigkeit vorgetäuscht oder von niemandem bezweifelte Zielgerichtetheit wichtigtuerisch hervorgehoben werden soll. Wer wird schon ungezielte Maßnahmen ergreifen?
  5. Realisieren heißt „verwirklichen“ und sonst nichts. In der Bedeutung sich etwas klar machen“ ist es ein schlimmer Anglizismus.
  6. Bürokratenjargon: befassen, beinhaltern, durchführen, Ebene, erfolgen, erstellen, hinsichtlich, insbesondere, seitens, zwischenzeitlich.
  7. durchführen. Bürokratendeutsch und Nazi-Wort, bei Reuters ausdrücklich verboten. Besser: vornehmen, verwirklichen, vollziehen; manchmal auch ausführen, durchsetzen, herbeiführen vollenden.
  8. nachdem.  „Nachdem ich ankam“ ist falsch. Nachdem verlangt das Plusquamperfekt (ausnahmsweise das Perfekt: wenn nämlich der Bericht im Präsens steht). 
  9. kontrovers diskutieren. Modische Verdoppelung: discutere (lat.) heißt schon „auseinander schlagen“, und das ist kontrovers genug.
  10. Letzterer und Ersterer sind nicht nur umständlich, sondern auch noch falsch, weil der Erste und der Letzte keine Steigerung zulassen. Der Erste – der Letzte; der Erste – der Zweite; der eine – der andere; oder die Namen nochmal.

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